This is Việt Nam

Why Look at Việt Nam? Ein flüchtiger Blick in die einschlägigen Fotobände, Magazine und Journale genügt: Visuelle Repräsentationen von Vietnam produzieren und verfestigen auch weiterhin die Vorstellungen des Kolonialen; die Bilder und Bildfolgen aktualisieren stetig eurozentrische Erinnerungen und Projektionen. Der oftmals titulierte „Zauber“ des Landes mit seiner „einzigartigen Natur“, dem „französischen Charme“ der Metropolen und den „Bergvölkern“ des Hinterlandes operiert als Chiffre des Kolonialen. In den Fotografien verdichten sich die Konstruktionen des Fremden und des Exotischen, das westliche Imaginarium dominiert und recodiert die Orte Vietnams als Vietnam – oder gar als Asien. Das Fotografierte erhält den Status einer Signatur: Reisbauern lächeln in die Kamera, Rikschafahrer lümmeln und schlummern in ihren Gefährten, Kinder feixen und winken den harten Lebensbedingungen trotzend den Objektiven entgegen.

Temporalisierungen und Ungleichzeitigkeiten sind dabei ein essentieller Bestandteil der visuellen Begegnungen mit Vietnam, die Vorstellungen einer natürlichen, evolutionären Zeit verschränken sich mit westlichem Fortschrittsdenken. Historische Segmente ragen in die Bilder hinein, markieren differente Entwicklungsstufen und manifestieren Überlegenheit. Die Menschen in Vietnam scheinen, im anachronistischen Sinne, aus der Zeit genommen oder einer „unverdorbenen“ Zeit anzugehören; Unschuld und Idylle, Einklang und Natur, Integrität und Autonomie prägen die Bildserien.

Mit This is Việt Nam bricht der vietnamesische Fotograf Bùi Quang Thịnh die Vorstellungen des Kolonialen. Bùi geht zweiteilig vor: Er eignet sich die konventionellen Praktiken des Visuellen an, spielt mit Referenzen, Stilisierungen und Ikonen, verzichtet aber auf gängige Formen von Dramatisierung, Ästhetisierung und Authentifizierung und entzieht sich den „verführerischen“ Narrativen und Dichotomien des Kolonialen. Bùi interveniert: die Fotografie gehörte nie allein dem Westen, er passt die Techniken und Praktiken des Fotografischen in die Rahmungen des Vorkolonialen und Postkolonialen ein, verwebt Formen von Zeitlichkeit, Räumlichkeit und Struktur. Sein Vietnam ist gesichtslos und hat dennoch Gesichter, ist ohne Narration und erzählt dennoch Geschichten. Bùi entlarvt die Vorstellungen des Kolonialen, seziert die Traditionen des Fotografischen und öffnet eine Perspektive des Postkolonialen für Vietnam.

Den Fotoband habe ich mit dem Publizisten Alban E. Smajli gemeinsam herausgegeben, eine limitierte und nummerierte Anzahl von 25 signierten Fotobüchern ist bei LE MILE erhältlich.

[Fotoband hrsg. mit Alban Smajli] Bùi Quang Thịnh. This is Viet Nam. Weimar: LE MILE Studios, 2022.

 

Irving Penn – Earthly Bodies

„Vierteljährlich“ grüßt das Murmeltier: Auch im April ist wieder eine neue Ausgabe von Le Mile Magazine erschienen. In der aktuellen Ausgabe stelle ich den U.S.-amerikanischen Fotografen Irving Penn vor, dessen ausdrucksvolle Portrait-Fotografien derzeit in einer Retrospektive im Metropolitan Museum of Art, New York, zu sehen sind. Dem bereits zu Lebenszeiten gefeierten Perfektionisten gelang es solch Persönlichkeiten wie Truman Capote, Joe Louis und Pablo Picasso für seine Arbeiten zu gewinnen und sie in seinen sorgsam komponierten „Corner Portraits“ in völlig neues Licht zu „rücken“.

Obschon in den 1940er, 1950er und 1960er Jahren schnell zum Klassiker der Modewelt und des Kunstbetriebes aufgestiegen, war Penns Werdegang wenig vorbestimmt. Im Jahr 1917 als Kind einer russisch-jüdischen Migrantenfamilie in Plainfield, New Jersey, geboren, hatte Penn an der heutigen Philadelphia University of Arts studiert und zunächst eine Karriere als Maler ins Auge gefasst. Bei einer Reise nach Mittel- und Südamerika entpuppte er sich jedoch allenfalls als mittelmäßig begabt. Penn stürzte in eine Sinneskrise. Aus dieser befreite ihn erst Alexander Liberman, der Art Director der Vogue, der den Brodovitch Schüler im Jahr 1943 dazu überredete, die Disziplin zu wechseln und sich fortan der Fotografie zu widmen. Irving Penn sollte den Wechsel nie bereuen: Schon seine erste Farbfotografie fand sich auf dem Cover der Vogue wieder.

Wer Irving Penn in New York verpasst hat, darf sich trotzdem freuen: den Kuratoren zufolge soll die Ausstellung demnächst nach Berlin und München reisen.

Hübner, Andreas. „Irving Penn: Earthly Bodies“. Le Mile Magazine 23 (2017): 10–15.

Le Mile °21

LE MILE ISSUE 21 CoverMit dem Januar 2017 ist die neue Ausgabe des LE MILE Magazins erschienen. Pünktlich zu ihrem fünfjährigen Jubiläum bietet LE MILE damit wieder einen Überblick über das kontemporäre Geschehen in der Mode- und Kunstwelt. Während meine KollegInnen für die aktuelle Ausgabe u.a. die gegenwärtige Ausstellung im Solomon R. Guggenheim Museum vorstellen und ein Interview mit dem Helmut Lange Schüler Kostas Murkudis führten, durfte ich eine Schau des Fotografen Michael Kenna besprechen. Kenna, dessen Bilder derzeit in der Robert Mann Gallery, New York, zu sehen sind, lebt und arbeitet nach Stationen und Ausstellungen in London, Paris und Tokyo mittlerweile in Seattle. Im Kontrast zu vielen seiner Mitstreiter begeht Kenna den Prozess des Fotografierens weiterhin ausschließlich analog und stellt der oftmals diffusen Polyphonie digitaler Bildwelten eine puristische Bildsprache entgegen. Er fordert somit die globale Verdichtung und Beschleunigung der Moderne heraus und propagiert stattdessen eine Form von innerer Kontemplation. Dabei wohnt Kennas Fotografien ein wohltuendes und kreatives Sichversenken inne.

Bis zum 04. Februar bleiben die Türen der Robert Mann Gallery im Herzen Chelseas, New York, geöffnet und Michael Kennas Fotografien der interessierten Öffentlichkeit zugänglich.

Hübner, Andreas. „Michael Kenna: Visual Haiku Poems“. Le Mile Magazine 21 (2017): 38–41.