Aktuelle Forschungsperspektiven: Historisches Lernen und das Anthropozän

Die Bezeichnung der Gegenwart als Anthropozän, einer Epoche also, in welcher der Mensch und sein Handeln als ein geologischer und ökologischer Faktor – wenn nicht sogar der entscheidende – betrachtet werden muss, ist längst nicht mehr alleiniger Gegenstand der Naturwissenschaften. Im historischen Lernen verschränken sich Vergangenheit und Gegenwart zusammen mit der Zukunft als Zeitdimensionen in der Fähigkeit zur Orientierung in der Zeit. Daher ist notwendig, den Zusammenhang zwischen Zeitbewusstsein und historischem Denken zu erforschen, insofern das Verstehen des Anthropozäns sowohl das Verstehen langer Zeiträume voraussetzt als auch das Bewegen innerhalb verschiedener disziplinärer Wissensfelder, die diese Zeiträume definieren. Folgende Veröffentlichungen von meinen Partner:innen und mir liegen bereits vor oder erscheinen in Kürze:

[Hrsg. mit Andreas Sommer] Das Anthropozän (Themenheft), Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 23 (2024), (September 2024)

[mit Sebastian Barsch] „Geschichtsbewusstsein und „Zeitbewusstheit“: Geschichtsdidaktische Überlegungen zum Begriff der Zeit im Anthropozän“, in: Geschichtsbewusstsein, Geschichtsbilder, Zukunft, hrsg. v. Jörg van Norden und Lale Yildirim (Geschichtsdidaktik theoretisch, 3). Schwalbach: Wochenschau, 2024. (September 2024)

[mit Sebastian Barsch und Martin Nitsche] „Zeitkonzepte in gesellschaftswissenschaftlichen Lehrplänen: eine deutsch-schweizerische explorative Studie“, Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften (2023). 45–62 (peer reviewed)

[mit Sebastian Barsch und Martin Nitsche] „Diffundierende Zeit – das Anthropozän als Herausforderung für das historische Zeitverstehen“, Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 22 (2023): S. 85–100. (peer reviewed)

[mit Sebastian Barsch] „Concepts of Time in Science Education and History Didactics: Towards an Interdisciplinary Approach to Environmental History“, in: Why History Education, hrsg. v. Peter Gautschi, Markus Furrer and Nadine Fink. Schwalbach: Wochenschau, 2023. S. 311–322 (peer reviewed)

„‚Anregung zum Müßiggang‘: Geschichtsdidaktik und Zeitgeschichte in Zeiten von Katechismus-Debatte, Globalisierung und Anthropozän“, in: Geschichtsdidaktische Perspektiven auf die Geschichte des 20. und 21. Jahrhunderts, hrsg. v. Sebastian Barsch (Think! Historically: Teaching History and the Dialogue of Disciplines, 3). Kiel: Universitätsverlag Kiel, 2022. S. 61–68. Open Acess https://doi.org/10.38072/2703-0784/p33

„‚Schwellenwerte‘: Das Anthropozän erfahren“, in: Historische Erfahrung, hrsg. v. Jörg van Norden und Lale Yildirim (Geschichtsdidaktik theoretisch, 1). Frankfurt: Wochenschau, 2022. S. 265–278. (reviewed)

„Climate(s) of Change: Towards a ‘Radical’ Concept of History Education in the Anthropocene?“, Geschichtstheorie am Werk, 13.12.2022: https://gtw.hypotheses.org/9976 (Zugriff 13.12.2022). Frz. Übersetzung: „Climat(s) de changement : Vers un concept « radical » de l’enseignement de l’histoire dans l’Anthropocène ?“, übers. v. Bettina Severin-Barboutie, Geschichtstheorie am Werk, 10.01.2023: https://gtw.hypotheses.org/10320 (Zugriff 16.01.2023).

[mit Alexander Denzin] „‚Gesellschaftliche Naturaneignung‘: Skizzen über das ZusammenDenken von Sozial- und Umweltgeschichte in der Geschichtsdidaktik“, Kaleidoskop Kenkmann, 04.11.2022: https://kaleidoskop.hypotheses.org/852  (Zugriff: 04.11.2022).

[Abbildungsnachweis: Los Angeles glowing outside the window <https://www.flickr.com/photos/52614599@N00/162363485> (12.12.2022) by Doc Searls <https://www.flickr.com/photos/docsearls/> (12.12.2022), used and licensed under CC BY-SA 2.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.0/?ref=openverse> (12.12.2022), not modified.

Interspezies Lernen

Mitte Juli 2021 hat die Theologin Simone Horstmann im Transcript Verlag einen Band herausgegeben, der unter dem Titel Interspezies Lernen die Implementierung von Tierschutz- und Tierrechtsfragen in die Lehrpläne, Tagesordnungen und Schwerpunktsetzungen der unterschiedlichsten Bildungseinrichtungen und -initiativen erkundet und hinterfragt. Die Beiträger:innen des Bandes, zu denen ich erfreulicherweise gehören durfte, diskutieren dementsprechend bildungstheoretische Grundlinien ihrer jeweiligen Fächer für ein Lernen, das konsequent speziesübergreifend gedacht ist. In meinem Beitrag untersuche ich die Rolle von nichtmenschlichen Tieren innerhalb der historischen Tierschutz- wie Tierrechtsbildung und plädiere dabei für eine Berücksichtigung tierlicher Geschichtsfähigkeit aus: Das heißt, dass ich in Anschluss an Autor:innen wie Donna Haraway nicht nur festhalte, dass auch nichtmenschliche Tiere eine Geschichte haben und dass es eine gemeinsame Geschichte, eine Co-History von Menschen und anderen Tieren gibt, sondern darüber hinaus dafür eintrete, dass diese Einsichten auch in den schulischen Lernprozessen stärkere Berücksichtigung finden.

Der Band ist dank einer Open Access Regelung frei zugänglich: https://doi.org/10.1515/9783839455227

„‚Mißhandele und mißbrauche nie ein Tier!‘: Tierschutz- und Tierrechtsbildung in geschichtsdidaktischer Perspektive“, in: Interspezies Lernen: Grundlinien interdisziplinärer Tierschutz- und Tierrechtsbildung, hrsg. v. Simone Horstmann. Bielefeld: Transcript, 2021. 89–106. Open Access. Reviewed.

For Crown or Colony

Oregon Trail, Civilization, und The Assassin’s Creed sind nur drei von unzähligen digitalen Spielen, die seit mehr als einem halben Jahrhundert für das Spielen mit Bezug zu oder zur Vermittlung von historischen Ereignissen entwickelt wurden. Schon 1965 versuchte Bruse Moncreiff, ein IBM-Mitarbeiter und Wirtschaftstheoretiker, die unterrichtspraktischen Potenziale des Sumerian Game, einer digitalen Wirtschaftssimulation für die Schulen im US-Bundesstaat New York, zu ergründen. Zwar wurden Moncreiffs Forschungen in der Folge nur vereinzelt von Pädagogik und Didaktik beachtet, jedoch traten diverse Spielemacher in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren in Moncreiffs Fußstapfen. Sie entwickelten immer mehr digitale Spiele, deren historischer Hintergrund auch zur Deutung von vergangenen Geschehnissen beitrug. Gleichzeitig funktionierten die Spiele als Produkte und Zeugen konkreter historischer Gesellschaften und Kulturen.

Mit For Crown or Colony des gemeinnützigen Produzenten Mission US steht Lehrenden nun ein Lernszenario zur Verfügung, dessen Einsatz im Unterricht aus schulpraktischer Perspektive durchaus Erfolg verspricht, nicht zuletzt, weil es inhaltlich und didaktisch an historischen Modellen, Strukturen und Prozessen orientiert ist und von den Schüler*innen eine Reihe von interdependenten Entscheidungen verlangt, während es gleichzeitig eine kritische Auseinandersetzung mit ebendiesen erfordert. Mit Caro Blume zusammen habe ich daher in einem Beitrag die Potentiale des Spiels für den Geschichts- und Entlischunterricht erkundet und dabei vor allem die Gameplay-Mechanismen des Spiels und die Eignung des Spiels für transkulturell-kommunikative Lehr-Lern-Settings untersucht.

[mit Carolyn Blume] „Von Patrioten und Rebellen: Ein digitales Lernspiel für den fremdsprachlichen Englischunterricht“, in Englisch­unterricht in einer digitalisierten Gesellschaft, hrsg. v. Judith Bündgens-Kosten und Peter Schildhauer. Weinheim: Beltz, 2021. 154–165. (peer reviewed)

Pandadiplomatie im Klassenzimmer

Als im Sommer 2017 die Augen auf Deutschland als Gastgeber des G20 Gipfels gerichtet waren, fanden sich zahlreiche Fernsehkameras weniger auf das Hamburger Kongresszentrum, sondern den Berliner Zoo gerichtet. Sie filmten die dort eben erst eingetroffenen Pandabären Meng Meng und Jiao Qing, die, basierend auf der chinesischen Pandadiplomatie, als Botschafter für die wirtschaftliche Zusammenarbeit beider Länder in die Hauptstadt gekommen waren. Die Bundesregierung verhandelte derweil mit Peking großvolumige Handelsverträge aus. Dies war nicht das erste Mal in der deutsch-chinesischen Geschichte, dass diese Tiere zu Objekten von diplomatischen Verhandlungen geworden waren. 1980 hatte Bundeskanzler Helmut Schmidt nach erfolgreichen Gesprächen mit China die beiden Pandas Bao Bao und Tjen Tjen für den Berliner Zoo gewinnen können. Zur Zeit des Kalten Krieges waren die Tiere Gold wert. 1958 hatte das Pandaweibchen Chi Chi mehrere Wochen im Ost-Berliner Tierpark auf ihrem Weg nach London verbracht, der damit einen auch politisch bedeutsamen Prestige-Erfolg gegenüber der Konkurrenz im Westen verbuchen konnte. Tiere, so zeigen diese zeithistorischen Episoden, sind Objekte historischer Narration, sind sie aber auch historische Akteure?

Über diese Frage wird innerhalb der historischen Zunft seit einigen Jahren durchaus gestritten und auch wenn die Debatte darum, ob Tiere nun handlungsmächtig oder nur wirkmächtig sind längst nicht beendet ist, so lässt sich doch festhalten, dass das noch junge Feld der Tiergeschichte sich wachsender Beliebtheit erfreut. Dass die Themen der Mensch-Tier-Beziehungen zudem zentrale Aspekte des Geschichtsunterrichts berühren und dass man über die Befassung mit Tieren neue didaktische Zugänge zu Themen entwickeln kann, die auf den ersten Blick menschenzentriert scheinen, ist bislang in der Geschichtsdidaktik nur am Rande aufgegriffen worden. Eine Didaktik der Mensch-Tier-Beziehungen liegt bisher nicht vor. In unserem Aufsatz leuchten Mieke Roscher und ich daher einerseits das Potential aus, welches die Tiergeschichte für den Geschichtsunterricht bietet, anderseits blättern wir die geschichtswissenschaftlichen Perspektiven auf die Erforschung von Tieren auf und stellen ihre geschichtsdidaktischen Implikationen vor.

Hübner, Andreas und Mieke Roscher. „Pandadiplomatie im Klassenraum: Mensch-Tier-Beziehungen als geschichtsdidaktische Aufgabe“, Zeitschrift für Geschichtsdidaktik 18 (2019): 112–128. (peer reviewed) Download